Arm macht krank

Arm macht krank.
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Armut ist in Deutschland ein zunehmend drängendes Problem. Besonders betroffen sind Kinder, Frauen, Ältere und Menschen mit Migrationsgeschichte. In ihrem Buch „Armut hat System“ plädiert Sirkka Jendis für mehr Gerechtigkeit – und beschreibt auch die gesundheitlichen Folgen der finanziellen Not: Arm macht krank.

Welche Konsequenzen hat die wachsende soziale Ungleichheit für unsere Gesellschaft? Sirkka Jendis, Geschäftsführerin der Tafel Deutschland, beschreibt in ihrem Buch, wie Armut im Alltag ausgrenzt, stigmatisiert, einschränkt und die Lebensqualität beeinträchtigt. Wenn Menschen chronisch knapp bei Kasse sind, hat das auch gesundheitliche Konsequenzen, sagt die Autorin – ein Kapitel im Buch heißt „Arm macht krank, krank macht arm“. Einen Auszug daraus lesen Sie im Folgenden.

Arme Menschen sterben eher

Sirkka Jendis schreibt: „Arme Menschen sterben häufiger an Herzinfarkten, Schlaganfällen, Magen-, Darm- und Lungenkrebs.1 Laut Robert Koch-Institut sterben 27 Prozent aller armutsgefährdeten Männer und 13 Prozent aller armutsgefährdeten Frauen, bevor sie 65 Jahre alt werden. Und eine Studiensammlung der Leopoldina, der Nationalen Akademie der Wissenschaften, zeigt, dass dabei Arbeitsbedingungen und Wohnverhältnisse eine immense Bedeutung haben. Nachtarbeit, Lärm, Abgase, Lichtverschmutzung sind Faktoren, denen Spitzenverdiener*innen in Beruf und Privatleben deutlich seltener ausgesetzt sind. […]

Auch Christoph Butterwegge2 teilt aufgrund der Vielzahl der übereinstimmenden empirischen Befunde das Urteil, dass relative Armut, und insbesondere der Mangel an gesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten und soziale Ausgrenzung, höhere Morbiditäts- und Mortalitätsrisiken zur Folge hat – weshalb (Langzeit-)Arbeitslosigkeit und die mit Armut einhergehende Stigmatisierung ernsthafte Gesundheitsrisiken sind. Wer als Bürgergeldempfänger*in zudem in lauten, verkehrs- und schadstoffreichen Vierteln wohnt, womöglich noch in einer sanierungsbedürftigen Wohnung unter beengten Verhältnissen, für den rückt so etwas wie ‚Gesundheitsgerechtigkeit‘ in weite Ferne. […]

Was ist dran an dem Klischee des rauchenden, trinkenden, Junkfood verschlingenden Sozialhilfeempfängers, der sich zu wenig bewegt und lieber stundenlang vor dem riesigen Flachbildfernseher sitzt? Tatsächlich rauchen Arme mehr, ernähren sich ungesünder, trinken indes weniger. Aus dem Alkoholatlas des Deutschen Krebsforschungszentrums geht hervor: Am häufigsten wird ‚riskanter Alkoholkonsum‘ bei Frauen mit ‚hohem Sozialstatus‘ verzeichnet, gefolgt von ebenso reichen Männern.1 Das ist kein Aufruf, Reiche zu stigmatisieren – sondern einer, die eigene Sichtweise auf Armutsbetroffene zu hinterfragen, die Bilder im Kopf mit wissenschaftlichen Fakten abzugleichen. Bereit zu sein zur Dissonanz, zur Überprüfung und Änderung unserer Einstellungen ist eine wichtige Voraussetzung für ein neues Menschenbild, […] das Armut in erster Linie als gesamtgesellschaftliches und weniger als individuelles Problem oder das einzelner Bevölkerungsgruppen betrachtet, das von Migrant*innen etwa oder von Erwerbslosen. Und vor allem ein Menschenbild, das von persönlicher Schuldzuweisung absieht und pauschalen Stigmatisierungen entschlossen entgegentritt.“

„Deutschland ist unsozial“

Harsche Kritik an unserem Sozialstaat äußert Ulrich Schneider in seinem Buch „Krise“. Der ehemalige Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes nimmt kein Blatt vor den Mund: „Deutschland ist unsozial“, schreibt er – mit echter Solidarität sei es bei uns schlecht bestellt. Arm macht krank, das konstatiert auch Ulrich Schneider. Sein Buch geht aber noch weit darüber hinaus. Der Experte bilanziert die gesamte Sozialpolitik der letzten Jahrzehnte und kommt zu dem Ergebnis, dass Deutschland ein tiefer als je zuvor in Arm und Reich gespaltenes Land sei. Ein „Muster aus Steuerverzicht, Reichenschonung und Schuldentreiberei“ führe laut Schneider dazu, „dass es am Ende doch immer wieder die Schwächsten sind, die die Zeche zahlen müssen“.

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein

„Wir brauchen Brot, aber wir brauchen die Rosen dazu“ – unter diesem Motto kämpften Tausende von Textilarbeiterinnen im US-Staat Massachusetts vor 100 Jahren für ein Einkommen, von dem sie und ihre Kinder auch leben konnten. Das Brot steht dabei für eine materiell gesicherte Existenz, während die Rosen auf all jene Dinge verweisen, die Menschen außerdem zum guten Leben brauchen: Anerkennung, Freundschaften, soziale und kulturelle Teilhabe. Die aktuellen Krisen zeigten, so Autor Martin Schenk in seinem Buch „Brot und Rosen“, worunter Menschen am meisten leiden, wenn sie der Rosen beraubt sind: Einsamkeit, Ohnmacht, Scham.

 

Sirkka Jendis: Armut hat System. Droemer Verlag, München 2024

Ulrich Schneider: Krise. Westend Verlag, Neu-Isenburg 2024

Martin Schenk: Brot und Rosen. Edition Konturen, Wien/Hamburg 2024

 

  1. https://www.reporterpreis.de/upload/su-ebach-geboren-in-613602b7f2a78.pdf
  2. https://www.socialnet.de/rezensionen/26261.php